Die Türkei nach dem Referendum

Die Türken haben sich - im Inland aber besonders auch im Ausland - für die von Erdogan verfolgte Verfassungsänderung ausgesprochen. Darüber diskutierten wir mit dem Türkei-Experten Dr. Karadag.

Die Türkei hat sich gegen Europa entschieden, gegen die Demokratie. Sie ist ab sofort noch stärker auf einem autokratischen Kurs mit einem starken Führer an der Spitze. Vor allem anderen, auch das hat die Wahl gezeigt, ist die Türkei aber gespalten. 51,3 % der Wahlberechtigten votierten für das von Präsident Erdogan vorgeschlagene Präsidialsystem. Wie geht es nun weiter für das Land an der Schwelle zwischen dem Nahen Osten und Europa? Hierüber sprach die HSAP Bremen mit dem Politikwissenschaftler und Türkei-Experten Dr. Roy Karadag. Der wissenschaftliche Geschäftsführer des Instituts für interkulturelle und internationale Studien (InIIS) berichtete davon, dass er davon ausgehe, dass die Referendumswahlen manipuliert waren und nahm Bezug auf die von der OSZE kritisierten Unstimmigkeiten.

Dr. Karadag problematisierte die Legitimität des Referendums grundsätzlich. Verhaftungen und Einschüchterung von großen Teilen der parlamentarischen Opposition wie auch der nicht-staatshörigen Presse, habe Erdogan zur mittelbaren Wahlmanipulation gedient. In Anbetracht dessen sei es erstaunlich, dass die Wahl nicht eindeutiger ausgefallen ist, so der Politikwissenschaftler.

Des Weiteren waren die tiefen Spaltungen in der türkischen Bevölkerung und der politischen Sphäre zentrale Gegenstände der Diskussion mit Dr. Karadag. Dass 48 % der Wahlberechtigten gegen das Präsidialsystem gestimmt hatten, dürfe man nicht als geschlossenem Ruf nach Demokratie missverstehen.  Unter den Nein-Wähler gäbe es eine ganze Reihe von Nationalisten, die mit einem starken Führer der Türkei kein Problem hätten, jedoch gegen die Personalie Erdogan votierten. Eine Tatsache, die Erdogan entgegenkam. Doch auch in seiner eigenen Partei AKP gab es solche, die gegen Erdogans Reformpläne stimmten. Ihre Hoffnung, damit einen Machtwechsel in Partei und Land herbeizuführen scheiterte. Nach Wiedereintritt in die AKP wird Erdogan dafür sorgen, dass seine Partei geschlossen hinter ihm steht.

Unter der Überschrift „Die Türkei und Europa“ diskutierten die Teilnehmer und der Referent unter anderem die Hinhaltetaktik der EU. Die wahrgenommene Widersprüchlichkeit europäischer Außenpolitik habe Erdogan für sich instrumentalisieren und zusätzlich Wähler mobilisieren können. Die Anwesenden äußerten sich mehrheitlich für die konsequente Beendigung der EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei. Nach Dr. Karadag sei das Argument für die Aufrechterhaltung der Verhandlungen, dass man jene vermeintlichen Demokraten – den Nein-Wähler – unterstützen müsse und deshalb eine offene Tür brauch, nicht treffend. Diese seien, wie bereits angesprochen, weder geeint noch konsensuell demokratisch.

Wie es mit der Türkei weitergehe und in welchem Rahmen Opposition und unabhängige Berichterstattung im Land erschwert wird, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Formell soll die Verfassungsreform erst zur nächsten Wahl in 2019 vollständig umgesetzt werden. Doch schon vorher wird der Präsident wieder der AKP beitreten. Besonders für parteiinterne Gegner wird dies Auswirkungen haben. Ob die Türkei-EU und die Türkei-Deutschland Beziehungen sich nun wieder normalisierten oder die Parteien auf Konfliktkurs bleiben, wird von der neuen Rhetorik Erdogans und den nächsten Schritten der EU abhängen.

Wir bedanken uns bei Dr. Roy Karadag und allen Anwesenden für das Interesse und die Bereitschaft zur offenen Diskussion.