Die mit dem Amtsantritt der neuen polnischen Regierung unter Beata Szydło seit 2015 eingeleiteten Reformprozesse im Justizwesen haben nicht nur im Land selbst, sondern auch auf Ebene der EU und ihrer Mitgliedsstaaten wiederholt scharfe Kritik hervorgerufen. Im Fokus der Kritik standen unter anderem abgeänderte Handlungsvorgaben für das Verfassungsgericht, die eine Verfassungskrise auslösten, sowie eine Neuregulierung der öffentlich-rechtlichen Medien. Zu Letzterem wurde von EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, gefordert, die polnische Regierung im Mediensektor unter Aufsicht der Kommission zu stellen. Am 7. Dezember 2017 reichte Beata Szydło ihren Rücktritt ein. Vier Tage später wurde der ehemalige Finanzminister Mateusz Morawiecki als neuer Regierungschef vereidigt.
Der Professor, der selbst über das Europarecht lehrt, hielt fest, dass die Einleitung des Verfahrens durch die Kommission lediglich als eine Schlussfolgerung aus der Verletzung der Verträge durch den Mitgliedsstaat gesehen werden könnte. Die spannende Frage sei jedoch: Warum reagiert die Kommission in Hinsicht auf die Prozesse in beispielsweise der Ukraine erst jetzt?
Zum angewandten Verfahren sei besonders wichtig, dass es bisher keine Erfahrungswerte mit dem Art. 7 EUV gäbe, hinzu käme der schwerwiegende Ausschluss der Stimmberechtigung im Rat. Der ehemalige Kommissionspräsident Manuel Barroso sprach 2012 in seiner Rede zur Lage der Union von einer „nuklearen Option“, dem Austritt des Mitgliedsstaats aus der EU. Besonders seit dem Brexit ist dies keine rein theoretische Option mehr. Das Entscheidende um überhaupt Konsequenzen ziehen zu können, sei aber die zu erreichende Einstimmigkeit, die eher schwer bis gar nicht zu erwarten sei. Grund dafür sei die Frage, ob die Voraussetzung für den Art. 7, Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Unionswerte durch einen MS, gegeben seien.
Prof. Dr. Claudio Franzius sieht in der Kürzung der EU Finanzmittel eine weitere mögliche Konsequenz, zumal Polen die meisten EU-Finanzmittel erhält. Der Art. 7 müsse so nicht bis zum Ende genutzt werden. Beispielsweise könnte die finanzielle Zuweisung an rechtsstaatliche Werte geknüpft werden. Kritisch zu betrachten sei jedoch, dass es wahrscheinlich sei, dass die Völker, nicht die Regierungen bestraft würden.
Franzius stellt mit Blick auf die Auswirkungen der Justizreform in Polen auf die Europäische Union die alles entscheidende Frage: Wie ist die EU zu verstehen - als Werte- oder als Rechtsunion? Von höchster Priorität sei das Fundament der Union: Das Vertrauen. Das als waagerecht beschriebene Vertrauen sei jedoch nicht grenzenlos und könnte widerlegt werden, beispielsweise durch nicht ausreichende Haftbedingungen. Der Dozent macht deutlich: „Die Demokratie in Polen geht uns etwas an!“ und „Polens Umgang mit der Justiz ist inakzeptabel!“
Die Stärkung der Opposition sei für die Union keine gute Handlungsoption, sie sei schlecht beraten dies zu tun, da es als Staatsstreich angesehen werden könne. Franzius setzt auf eine dezentrale Lösung. Im Vorabentscheidungsverfahren legen nationale Gerichte dem EuGH Fragen vor und verlesen das Urteil im Namens des jeweiligen Volkes. Somit erfolge sowohl eine Stärkung der nationalen Gerichte als auch Rückendeckung durch den EuGH. So könne das quasi verlorene Verfassungsgericht durch Fachgerichte und kleinere Gerichte kompensiert werden, diese dezentrale Lösung ist zudem souveränitätsschonender als die Alternative des Art. 7.
In der Frage, wie die EU zu begreifen sei, stellte Prof. Dr. Claudio Franzius zum Ende die Verbundordnung deutlich heraus. Jeder Mitgliedsstaat sei Teil der EU, so wie auch die EU ein Teil jedes Mitgliedstaats sei. Diese Verbundordnung sei heterarchisch geprägt und gut durch das wissenschaftliche Konzept der Multi-Level-Governance zu erklären.