Veranstaltungsbericht: Problembehafteter Blick in die deutsche militärische Vergangenheit - Der Traditionserlass der Bundeswehr

„Lehren statt ehren“ – für diese Faustformel plädiert Dr. Lukas Grawe im Umgang mit der überaus ambivalenten deutschen militärischen Vergangenheit der letzten 200 Jahre, angesichts der grundlegenden Überarbeitung des Traditionserlasses im Jahre 2018, der im Gegensatz zu den vorherigen Fassungen erstmals ausdrücklich auf das Grundgesetz der Bundesrepublik als ausschließlichen Wertemaßstab für die Traditionspflege innerhalb der Streitkräfte verweist. In unserem Online-Seminar vom 11.06.2021 sprachen Dr. Nikolas Dörr und Dr. Lukas Grawe von der Universität Bremen mit uns über die jüngste Reform des Traditionserlasses, sowie deren Stärken und Schwächen.

Zu Beginn hoben die Referenten zunächst die besondere Komplexität des Themas aufgrund der zahllosen Verbrechen deutscher Streitkräfte insbesondere während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervor. Im Gegensatz zu anderen Nationen wie beispielsweise Frankreich, Großbritannien oder den USA kann Deutschland nicht mit einem „gerechten Krieg“ als Bezugspunkt für seine Soldaten und Soldatinnen aufwarten. Während die genannten Länder ungeachtet eigener Zäsuren und Brüche dazu neigen würden, die militärische Vergangenheit zu idealisieren, sei vor allem aufgrund des folgenschweren Missbrauchs militärscher Macht während der nationalsozialistischen Diktatur eine gradlinige deutsche Militärtradition unmöglich.

 

Der erste Traditionserlass wurde 1965 als Dienstvorschrift – und damit verpflichtend – für die Bundeswehr formuliert. Die Hintergründe zu dieser Phase waren überaus heikel, da viele Bundeswehrsoldaten zuvor in der Wehrmacht gedient hatten und diese weiterhin als festen Bezugspunkt betrachteten.

 

Eine Zeitenwende zeichnete sich mit dem Amtsantritt der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP im Jahre 1969 ab. Es dauerte allerdings gut 13 Jahre, bis eine erste Reform des Traditionserlasses durch den damaligen Bundesminister der Verteidigung Hans Apel in die Wege geleitet wurde. Schlussendlich wurde die Wehrmacht nicht mehr als traditionswürdig klassifiziert, jedoch wurde sie weiterhin als weitgehend schuldlos angesichts der deutschen Verbrechen während des 2. Weltkriegs betrachtet. Dr. Dörr fügte an diese Stelle hinzu, dass sich diese Fehleinschätzung einer vermeintlich „sauberen Wehrmacht“ in der breiten Öffentlichkeit erst Mitte der 90er Jahre durch die deutschlandweiten Wehrmachtsaustellungen revidieren sollte.

 

Der dritten Neufassung des Traditionserlasses, die im Frühjahr 2018 vorgestellt wurde, ging u.a. die Festnahme des Bundeswehr Soldaten Franco A. im Januar 2017 voraus, der offenkundig eine rechtsradikale Gesinnung vertritt und überdies verdächtigt wird, als Teil eines rechtsextremen Netzwerks innerhalb des Bundeswehr Terroranschläge u.a. gegen Vertreter und Vertreterinnen der Bundesregierung geplant zu haben. Im Gegensatz zu den ersten beiden Erlässen ist die dritte Fassung durch die Einbindung des Grundgesetzes wesentlich normativer ausgelegt. Die deutsche Militärgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fallen somit durch das Raster. Auch das militärische Vermächtnis der DDR wird als nicht traditionswürdig betitelt: Die Nationale Volksarmee sei als sozialistische Klassen- und Parteiarmee integraler Bestandteil des Überwachungs- und Unterdrückungsapparates des SED Regimes gewesen und verfehle daher deutlich die neuerlichen normativen Richtlinien, so Grawe. Der Fokus solle sich darüber hinaus auf die Leistungen der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen, Friedensmissionen, humanitärer Hilfe oder Inlandseinsätzen richten. Die Referenten äußerten jedoch Bedenken, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr aus Sicht ihrer noch zu „frisch“ – sprich weder historisch noch politisch abschließend ausgewertet – und innenpolitisch zudem zu umstritten seien, als dass sie einen adäquaten Ersatz darstellen könnten.

 

In der abschließenden Rezeption sowie der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden des Seminars verdeutlichten beide Referenten ihre Kritik am aktuellen Traditionserlass: Die Implementierung des Grundgesetzes als normative Messlatte ermögliche es, der Ambivalenz der deutschen Militärgeschichte zwecks Traditionspflege besser entgegenzutreten. Zudem verlange dieser Schritt, dass militärische Leistungen außerhalb dieses normativen Gerüstes stets im politischen Kontext zu betrachten seien. Nach Einschätzung der Referenten stelle dies die Soldaten und Soldatinnen in ihrer Traditionspflege aber vor große Herausforderungen, da viele über Jahrzehnte etablierte Vorbilder durch den Erlass von 2018 traditionsunwürdig würden. Um einer Desorientierung zuvorzukommen, plädierte Dr. Dörr in Anlehnung an ein Statement des Militärhistorikers Michael Epkenhans dafür, beispielsweise die Erinnerung an die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 nicht gänzlich aus den Kasernen zu tilgen, sondern um den entsprechenden Kontext zu ergänzen, und somit auf die Licht- und Schattenseiten aufmerksam zu machen.

 

Wir bedanken uns bei Herrn Dr. Dörr und Herrn Dr. Grawe für diese sehr aufschlussreiche und spannende Seminar.